Kofferfabrik Lehmann / Sachsen-Zweirad-GmbH

 

Eigentlich war es so, dass vor 775 Jahren kein Mensch in dem Waldhufendorf Neukirch an ein Fahrrad gedacht hat. Damals war man zu Fuß in Bast- oder Holzschuhen, Besserverdienende zu Pferde unterwegs. Denn das Fahrrad wurde, wie wir wissen, im Jahre 1879 erfunden. Es entwickelte sich aus der Draisine (1817) und dem späteren Hochrad (1850).

 

Ernst Lehmann kam von der Wanderschaft durch ganz Deutschland zurück, nachdem er natürlich die Lehre als Sattler bei Herrn Bayer in Weißenberg erfolgreich abgeschlossen hatte. Aus der Zeit der Wanderschaft stammt auch die Faszination Ernst Lehmanns, Koffer industriell herzustellen.  

Am 15. März 1893 begann Ernst Lehmann in einer kleinen Werkstatt seine Produktion. Noch im gleichen Jahr, am 1. Juli, kaufte Ernst Lehmann ein 1400 m² großes Grundstück, das dem heutigen Standort an der Hauptstraße entspricht. Anfang 1895 konnte ein neues, eigenes Fabrikgebäude eingeweiht werden, das auch ein Geschäft für den direkten Verkauf der Produkte enthielt. 

Inzwischen begann der 1. Weltkrieg. Die Firma hatte sich bereits auf dem Weltmarkt etabliert. Das zeigte sich in der Herstellung von Gebrauchsgegenständen für den Krieg. Obwohl diese Produktion eher einen bitteren Nachgeschmack hatte, schuf sie jedoch fast 50 neue Arbeitsplätze und sicherte manchem Heimarbeiter die Existenz.  

Nachdem man im Jahre 1935 eine eigene Tischlerei errichtet hatte, mussten bereits 1937 Erweiterungen des Betriebes durch den Erwerb angrenzender großer Gebäude vorgenommen werden. Die Kapazität des Betriebes stieg auf eine tägliche Leistung von 3.000 Reisekoffer. Außerdem wurden noch Spezialartikel hergestellt. 7.000 kg Kofferpappe und 8.000 kg Vulkan-Fibre wurden monatlich verarbeitet.  

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Kofferfabrik enteignet und ging mit ihrer Produktion in Volkseigentum über.  Bis 1960 wurden in diesem Betrieb noch Koffer produziert.  

Der Senior und Begründer

der Kofferfabrik

Ernst Lehmann

Die Kofferfabrik Gebrüder Lehmann Neukirch (Lausitz) wurde ein Teil des VEB Kombinates Fortschritt

 

VEB ERNTEMASCHINEN BISCHOFSWERDA 

Im September 1960 begann die Produktion von Landmaschinen in Neukirch. Es wurden vorerst Zulieferteile für Mähbalken, Schwadräumer und die Hydraulik des Mähdreschers hergestellt.

Neukirch war auch für die Produktion von Plasteteilen, die für die Landtechnik im gesamten Kombinat benötigt wurden, verantwortlich. Ehemalige Kollegen bzw. heutige Mitarbeiter bei Sachsen Zweirad, erinnern sich mit Sicherheit an diese hervorragende Produktion auf dem Gelände der ehemaligen Eisengießerei. 

Das Kombinat „Fortschritt Landmaschinen“ war der führende Hersteller von Landmaschinen im gesamten Ostblock. Diese Maschinen wurden nach Ungarn, China, Polen, Rumänien, in die ČSSR und in die Sowjetunion exportiert. „Fortschritt“ beherrschte diesen Markt.

In der DDR waren Konsumgüter Mangelware – da viel in der DDR gar nicht bekannte Ware zu enorm niedrigen Preisen im „kapitalistischen Ausland“ verkauft wurden.   

Um diese Mängel zu beseitigen, gab es einen Beschluss des „Zentralkomitees der SED“, dass exakt festgelegte Betriebe Konsumgüter zu produzieren haben. Auf dieser Grundlage erhielt das „Kombinat Fortschritt“ im Jahre 1974 den Auftrag, Jugendfahrräder zu produzieren.

Aus heutiger Sicht betrachtet, war das unbewusst der Grundstein für die gegenwärtige Situation – ohne diesen Beschluss, kein Jugendfahrrad, ohne Jugendfahrrad kein Interesse von künftigen Fahrradproduzenten.  

In der DDR waren Devisen angeblich knapp, so dass viel improvisiert werden musste – und das zunehmend mit Erfolg. Fahrradkleinteile, die heute importiert werden, mussten unter erheblichem Aufwand selbst hergestellt werden. Es wurden Rahmen und Gabeln und fast alle Kleinteile, wie viele Sorten Muffen in einem Zweigbereich in Putzkau bei Gerhard Wolf produziert.

In der Jugendfahrradproduktion wurde ein Schiebeband aufgebaut. Wie der Name schon verrät, wurde das Fahrrad von Hand von Takt zu Takt geschoben. Ein Schmunzeln ist an dieser Stelle nicht ganz zu vermeiden!

In den ersten Jahren der Jugendfahrradproduktion wurden stolze vier Modelle hergestellt. Ein 24“ Mädchen – Standard, ein 24“ Mädchen – Luxus Modell und dazu die entsprechenden 24“-Knabenmodelle. Gute Qualität und Robustheit zeichneten diese beliebten Modelle aus.  

Als die Jugendfahrradproduktion so weit entwickelt war, dass der Eindruck entstand, sie läuft einigermaßen problemlos, wurde sie in die Hände von Schülern der achten bis zehnten Klassen gegeben. Ab 1975 produzierten nun diese Schüler im Rahmen ihres UTP-Unterrichts Jugendfahrräder. (UTP = Unterricht in der sozialistischen Produktion) 

Die Schüler der genannten Klassen kamen aller 14 Tage im Wechsel, jeweils einen Tag, in den Betrieb, um sich mit den Verhältnissen der Produktion vertraut zu machen. Ernsthaft betrieben, konnte diese Form des Unterrichts für die künftige Ausbildung der Schüler sehr nützlich sein.

Die Montage des Jugendfahrrades war keine schwere körperliche Arbeit und wurde daher von vielen Schulen der gesamten Umgebung genutzt und somit wurde das Fahrrad ziemlich kostengünstig hergestellt. Dieser Zustand blieb bis in das Jahr 1989 so erhalten. 

Bereits ab dem Jahr 1987 wurden die ersten Fahrräder für das „nichtsozialistische Ausland“ (BRD) gebaut. Mehdi Biria, der für die damaligen Kollegen oder gar für die Schüler lange ein unbekannter Herr war, kaufte bis 1.000 Stück pro Jahr vom Kombinat Fortschritt.

 
Modell Junior 

Nach der im Einigungsvertrag festgehaltenen Umwandlungsverordnung wurde das Kombinat „Fortschritt Landmaschinen“ nach 39 Jahren des Bestehens im Frühsommer 1990 aufgelöst und umgewandelt - nicht als Einheit, sondern jeder Betrieb für sich.

Aus dem Kombinat entstanden zunächst 53 einzelne GmbHs, zu denen auch die „Sachsen Zweirad GmbH“ gehörte. Damit war das Werk Neukirch ein Treuhand-Betrieb. In diesem Betrieb wurden ausschließlich Fahrräder produziert. Die Geschäftsleitung des Betriebes nahm Verbindung zu Herrn Mehdi Biria auf, da er schon vor der Wende an Fahrrädern aus Neukirch interessiert war.

INach 1990 entstand die "Sachsen Zweirad GmbH".

Der iranische Unternehmer Mehdi Biria beteiligte sich im gleichen Jahr zu 51 % am Werk. Ein Jahr später folgte die vollständige Übernahme. 

Der Betrieb wurde erweitert und modernisiert und die Zahl der produzierten Fahrräder erhöhte sich. Im Februar 2004 konnte das dreimillionste Fahrrad hergestellt werden. Es gab mehr als 3.000 unterschiedliche Fahrradmodelle und -varianten.

So wurde die deutsche und schwedische Post komplett mit Fahrrädern aus Neukirch ausgestattet. Im Jahre 2005 verkaufte Mehdi Biria das Werk an die US-Fonds-Gesellschaft Lone Star. Sie gab der Biria AG die Zusicherung, 200 feste Arbeitsplätze im Betrieb mittelfristig zu sichern. Doch im Dezember 2006 verkündete die amerikanische Finanzgruppe, dass sie im Jahre 2007 das Werk schließen wird.

Das war ein tiefer Schock für Arbeitnehmer, Zulieferer und für die Bevölkerung von Neukirch und der Nachbarorte. Aus diesem Grund wurde das letzte montierte Fahrrad schwarz gespritzt und dem Heimatmuseum übergeben.

Insgesamt sind 3.640.243 Fahrräder seit 1991 produziert worden.

 

Text/Bilder: Sachsen-Zweirad-GmbH, Juni 2003

Text: Bildband „Aus der Geschichte unseres Heimatortes Neukirch/Lausitz“, 2009