Die
sogenannte Hofrevolution zu Neukirch -
Bewegte Tage in der
Ortsgeschichte
Am
12. September 2000 jährte sich zum 170sten Male ein Ereignis, welches
in die Geschichte von Neukirch/Lausitz als sogenannte Hofrevolution
einging. An diesem Tag des Jahres 1830 stürmten aufgebrachte Einwohner
Neukirchs das örtliche Gerichtsgebäude, vernichteten die Akten,
befreiten die Gefangenen und richteten im Gutshaus schwere Verwüstungen
an. Nach kurzen, bewegten Tagen konnte die öffentliche Ruhe durch das
herbeigerufene Militär wieder hergestellt werden. In der Folge dieses
Aufstandes kam es zu zahlreichen Festnahmen und Gefängnisstrafen, die
von dem zuständigen Leipziger Gericht verhangen wurden.
Was
war damals geschehen?
Untrennbar
mit den Ereignissen jener Tage ist die davor stattgefundene
Verhaftungswelle verbunden. Der
Hintergrund soll im folgenden erzählt werden.
Die
Bevölkerung von Neukirch frönte damals, wie viele ihrer Zeitgenossen
anderer Orte auch, dem böhmischen Lottospiel. Dieses Lotto war in
Sachsen verboten, nicht jedoch im nur wenige Kilometer entfernt
liegenden Schirgiswalde, einer zu jener Zeit nicht zu Sachsen gehörenden
Gemeinde.
Der
Ort war ehedem eine selbständige Republik, die erst im Jahre 1845 zu
Sachsen gelangte. Die Ursachen dafür liegen in der wechselvollen
Geschichte der Oberlausitz begründet.
Diese
Region war über Jahrhunderte hinweg ein Teil des böhmischen Königreiches.
Im Prager Frieden von 1635 fiel sie gemeinsam mit der Niederlausitz an
das Kurfürstentum Sachsen. Durch den bereits 1451 vorgenommenen
Gebietstausch eines Grundherrn blieb Schirgiswalde jedoch eine böhmische
Exklave. Mit dem Schönbrunner Frieden im Jahre1809 musste Österreich
den Ort dann schließlich doch an Sachsen abtreten. Die Kriegswirren
jener Zeit waren jedoch Schuld daran, dass die Übernahme durch das sächsische
Königreich unterging, so dass die Stadt fortan weder zu dem einen noch
zu dem anderen Land gehörte. Sie bildete vielmehr eine eigene Republik
mit Steuer- und Militärdienstfreiheit, was sich bei Schmugglern und
Deserteuren schnell äußerster Beliebtheit erfreute. Erst im Jahre 1845
besann man sich in der sächsischen Verwaltung auf jene Untertanen und
übernahm den Ort endgültig in das Königreich.
Das
unter solchen Bedingungen ein Aufblühen des Lottospiels möglich war,
mag da wenig verwundern. Bot es doch daneben dem Spielenden verschiedene
Setzvarianten, bei denen man zwischen 1 und 5 Zahlen tippen konnte. Der
mögliche Gewinn stieg dann mit der Anzahl der gewetteten Zahlen und dem
gespielten Einsatz. Gezogen wurden die Zahlen für Böhmen und Mähren
jeden Mittwoch abwechselnd in Prag und Brünn.
Von
dieser böhmischen Lotterie gab es auch eine illegale Variante, die
sogenannten "Blauen Lotterien", auch Winkelbanken genannt. War
es beim staatlichen Spiel so, dass der Staat die Einsätze erhielt,
wurden sie beim blauen Lotto durch die Winkelbankiers behalten. Sie
bestimmten auch die Höhe von Einsatz und Gewinn. Ihre Tätigkeit musste
dabei natürlich völlig geheim geschehen, weshalb eine gehörige
Portion Raffinesse seitens der Bankiers unabdingbar war, um unbeschadet
durch die häufigen Hausdurchsuchungen zu kommen. Zuspruch fanden die
Winkelbanken vor allem bei der ärmeren Bevölkerung.
Das
Spiel verlief in der Weise, dass man bei den staatlichen Annahmestellen
oder den Winkelbankiers seine Zahlen setzte und den Einsatz tätigte.
Darüber bekam man eine Quittung, auf welcher auch die Zahlen standen,
die man bei einem Gewinn wieder vorlegen musste.
Damit
nicht so viel Aufsehen erregt wurde, hielten sich die Winkelbanken
sogenannte Einschreiber. Diese zogen durch das Land und nahmen die
Spieleinsätze entgegen. Sie bereisten aber nicht nur die nächste
Umgebung von Schirgiswalde, sondern besuchten auch sächsische und preußische
Ortschaften. Bis Berlin, Leipzig und sogar Hamburg sollen sie gekommen
sein. Dafür war ihnen auch eine Beteiligung an den Einnahmen gewiss.
Das meiste Geld verdiente aber der Bankier, da er den Spielern zwar
kleinere Gewinne auszahlte, sie jedoch um die großen Beträge betrog.
Wenn
die Einschreiber schon bis nach Leipzig kamen, so hatten sie natürlich
auch in Neukirch ihre Kundschaft. Dort war das Spiel allerdings wie in
ganz Sachsen verboten. Dementsprechend streng versuchte man die
Beteiligten davon abzubringen. Nachdem die Polizei am 17 August 1830
einen Lottogeldkassierer auf frischer Tat ertappte, wurden
Untersuchungen eingeleitet und etwa 40 Einwohner verhaftet, "...von
denen viele der Sache geständig waren, viele aber auf höchst ungebührliche
Art alles ins Leugnen gestellt hatten...". Bei diesen Verhafteten
befanden sich auch zwei Webergesellen, Carl Gottlob Benade und Johann
Gotthelf Wobst, aus Neukirch sowie ein die Lottozahlen austragender Bürger
aus Schirgiswalde. Diese leugneten hartnäckig ihre Verwicklung in das
Lottospiel, weshalb sie auch weiterhin inhaftiert blieben. Da man die
Untersuchungen " ... mit möglichster Beschleunigung ... "
betrieb, waren diese am 11. September 1830 " ... soweit beendigt,
dass nur noch die rückständige Bestrafung einiger weniger Personen ...
" ausstand. Zu diesen gehörten auch obengenannte Webergesellen.
Am
Nachmittage des 12. September erschien der Vater des
inhaftierten Wobst und forderte mit den Worten "Raus kommt
er!" die Freilassung seines Sohnes. Kurz darauf teilte der
Ortsgeistliche Freiherr von der Trenck dem Gerichtsdirektor mit,
dass "... die jungen Leute sich beredet haben sollten, die
Inhaftierten ... gewaltsam aus dem Stockhaus zu befreien ...
".
Im
ersten Moment wusste Matthesius nicht, ob er nachgeben oder
standhaft bleiben sollte. Schließlich entschied er sich zum
Besuch der Verhafteten. Er unterzog sie einem Verhör und entließ
sie mit der Aufforderung, sich am nächsten Tag in der
Gerichtsstube zu melden. Anschließend begab er sich in seine
Dienstwohnung im Gerichtsgebäude, wobei ihm der soeben
entlassene Wobst mit der Laterne heimleuchtete. Unterwegs
bemerkte er eine Menge junger Leute die sich zusammengefunden
hatten und ihm Worte wie zum Beispiel " ... du verfluchter
Racker, du Luder, mach das du fortkommst ... " nachriefen.
Kaum zu Hause angekommen erscholl vor dem Hause ein
Stimmengewirr, aus dem er den Ruf "Raus, raus du
Luder" vernehmen konnte. Dem folgte kurz darauf ein Hagel
aus Steinen und dem Holzzaun des Grundstückes entrissener
Latten, um die Fenster einzuwerfen. Nächstes Angriffsobjekt war
die Haustür, welche man einzurammen versuchte. Matthesius bemühte
sich in der Zwischenzeit den Leuten zuzureden, ihnen zu
versichern, daß die Freilassung von Wobst und Benade bereits
erfolgt sei, da man selbige lautstark forderte. In diesem Bemühen
wurde er von seiner Frau, seinem Schwager Aktuar Oertel und
seinem Schwiegervater unterstützt. Er selbst begab sich vor die
Haustür, um die Leute zu beruhigen. Zu jenem Zeitpunkt hatte
Matthesius noch die Hoffnung, durch Zureden die Menschen von
ihrem "Exzesse" abzubringen. Und für kurze Zeit
schien es auch so, denn die Menge wurde ruhiger. Doch das war
ein Irrtum. Es dauerte nicht lange, und das Treiben begann von
vorn. Wieder setzte ein Hagel von Steinen und Holz ein, wobei
aber nicht nur die Fenster das Ziel darstellten, sondern auch
Matthesius in den Mittelpunkt rückte.
In der Hoffnung die Leute zu beruhigen läutete der Diaconus von
der Trenck die Kirchenglocken, was jedoch zur weiteren Aufregung
der Menschen beitrug. Mit dem Ruf: "Nun wird gestürmt, nun
muss Feuer werden, die Akten raus, die müssen wir verbrennen,
das ist Sündenblut!" forderte man die Herausgabe der
Lottoakten. Was den Gerichtsdirektor aber mehr beunruhigte war
die Tatsache, dass sich in der Gerichtsstube außerdem das
gesamte Neukircher Gerichtsarchiv nebst Teilen der Archive von
Wilthen und Taubenheim befand. Um wenigstens diese Akten zu
retten, hatte seine Frau bereits die Lottoakten herbeigeschafft
und der wütenden Menge überreicht.
Matthesius zog sich anschließend mit den ihm treu zur Seite
stehenden Personen weiter ins Haus zurück, da er durch Steinwürfe
bereits einige Verletzungen davon getragen hatte. Nachdem die
Akten vor der Haustür im Schein der Fackeln besichtigt worden
waren, und dadurch zwischenzeitlich etwas Ruhe einkehrte, drang
man erneut in die Gerichtsstube ein und forderte nun auch die
restlichen Akten, um sie verbrennen zu können. Vergeblich
versuchte Matthesius, die Menge davon abzubringen.
Die Akten wurden hinter das Haus getragen und dort auf einem
Haufen verbrannt. Damit war das Neukircher Gerichtsarchiv
unwiederbringlich vernichtet. Doch als ob das noch nicht
ausreichend wäre, wurde auch die gesamte Inneneinrichtung der
Gerichtsstube zerschlagen und auf den brennenden Aktenstapel
geworfen. Das in der Gerichtsstube aufbewahrte Geld wurde
entwendet. Nur dem
flehentlichen Bitten des Hauspersonals war es zu danken, daß
nicht auch der Dachstuhl in Brand gesetzt wurde. Eine eilig
herbeigeschaffte Feuerspritze bewahrte schließlich noch die
Nachbarhäuser vor einem Übergreifen der Flammen des vor dem
Haus brennenden Stapels aus Möbeln und Archivgut.
Nachdem
der erste Rausch verflogen war, forderte man Matthesius
auf herauszutreten. "Sie hätten sich erst vor ihn
gestellen müssen, nun müsse er sich auch vor ihnen
gestellen." Der Gerichtsdirektor, auf das Äußerste
gefasst, trat zusammen mit seiner Frau vor die
aufgebrachte Menge und bot ihnen an, dass sie ihn
ermorden könnten. Doch nichts geschah. Nachdem sie ihn
gesehen hatten, konnte er sich wieder in das Haus
begeben. Mit diesem Schauspiel gingen die Ereignisse im
Gerichtsgebäude gegen 2 Uhr morgens vorerst zu Ende.
Ein paar Leute blieben da, um das Aktenfeuer weiter zu
bewachen, die anderen zogen auf den benachbarten
herrschaftlichen Hof, wo sich die Ausschreitungen
fortsetzten.
Die
zu jenem Zeitpunkt anwesende verwitwete Baronin von
Oppen geborene von Huldenberg rettete sich mit ihren
Dienstmägden in den Keller, wo sie verharrten, während
über ihren Köpfen die Menge wütete und das Mobiliar
zertrümmerte.
Nächstes
Ziel waren das Stockhaus und die Wohnung des
Forstgehilfen Döring, " ...
weil er seine Pflicht als Forstaufseher treu erfüllt
hatte ... ". Während man die Forstgehilfenwohnung
nur verwüstete, deckte man auch das Dach des
Stockhauses ab. Auch die Häuser der Frau Pastorin Müller,
des Kirchschulmeisters Köhler und des Rittergutspächters
waren das Ziel von Steinwürfen. Gegen fünf Uhr morgens
wurden dann im Gerichtsgebäude die restlichen Möbel
zerschlagen. Matthesius berichtet, in der Menge auch
Schulkinder gesehen zu haben: "Schmerzlich war es,
unter diesen Tumultuanten auch Schulkinder zu bemerken,
welche an diesem Tumulte tätig teilnahmen".
Am
nächsten Morgen wurde Matthesius von der Baronin
aufgefordert, den Ort zu verlassen. Diese Aufforderung
entsprang einem Versprechen, welches sie in der
vergangenen Nacht den Aufständischen geben musste.
Zuvor jedoch wurde der Gerichtsdirektor gezwungen, den
Einwohnern noch Quittungen für eingezahlte Gelder
ausstellen. Über die Hohe Straße begab er sich
schließlich "... nach Bautzen unter den Schutz der
höchsten Behörde ...".
Am
15. September traf eine Untersuchungskommission mit
militärischer Verstärkung in Neukirch ein. Unter dem
Vorsitz von Carl Friedrich Domsch nahm diese sofort ihre
Arbeit auf. Die Vernehmung der Beteiligten ging mit
zahlreichen Festnahmen einher, wovon im Verlaufe des
Verfahrens über 40 Personen betroffen waren. "Die
Frage, ob man gegen die Ortsherrschaft und deren
Gerichtshalter Beschwerden erheben möchte, wurde ...
schweigend verneint."
Streng
und unerbittlich führte die Untersuchungskommission
ihre Arbeit durch. Man versuchte insbesondere die führenden
Köpfe zu ermitteln, da man hinter dem Aufstand eine
geplante Verschwörung vermutete.
Nach
dem Abschluss der Ermittlungen fällte die juristische
Fakultät in Leipzig das Urteil. Die Strafen schwankten
zwischen 6 Monaten und 10 Jahren Zuchthaus und mussten
in den Gefängnissen von Zwickau und Waldheim sowie der
Schlossfronfeste in Bautzen abgesessen werden. Sieben
der Verurteilten erhielten 4 bis 8 wöchige Haftstrafen.
Von
diesen Schuldigen erlebten jedoch nicht alle die
Freiheit. Einige starben bereits in den Gefängnissen,
was auch mit auf die Haftbedingungen schließen läßt.
Damit
fand das juristische Nachspiel der Tumulte ein Ende.
Eine
Überraschung für die Neukircher Einwohner gab es noch
im Dezember desselben Jahres. Auf Ersuchen von Carl
Friedrich Domsch wurde der Gerichtsdirektor Matthesius
auf königlichen Befehl wieder in sein Amt eingesetzt.
Begründet wurde dies auch damit, dass die Neukircher
die Frage, ob sie etwas gegen die Amtsführung von
Matthesius zu sagen wüssten, verneint hatten. Die
Hofrevolution war
nun endgültig beendet.
Heute
bleibt uns nur mehr die Erinnerung an dieses Ereignis,
welches unter der Bezeichnung Hofrevolution in die
Dorfgeschichte einging.
Wer
sich mehr für das Leben der Menschen zu jener Zeit
interessiert, dem sei ein Besuch des Heimatmuseums
Neukirch empfohlen. Dort kann man auch die von den
Geschehnissen berichtende "Acta Privata" und
die verkohlten Reste einiger Aktenstücke betrachten.
Verweis
auf verwendete Literatur:
Unsere
Heimat. Beilage der Zeitung "Allgemeiner
Anzeiger", Schirgiswalde Ausgabe 10/1926 und 5/1937
Heimatmuseum
Neukirch: Acta Privata. Den zu Neukirch am 12ten und
13ten September 1830 stattgefundenen Tumult betreffend,
Actuar Carl Oertel, Neukirch 1830
Jacob,
Frank-Dietrich: Die Neukircher "Hofrevolution"
1830 und ihr historischer Hintergrund, in: Sächsische
Heimatblätter, Jahrgang
17, Heft 3,
Seite 118 -124
Pilk,
Georg: Die sogenannte Hofrevolution zu Neukirch im Jahre
1830, in: Aus der Heimat. Lausitzer Geschichts- und
Unterhaltungsblätter als wöchentliche Beilage der
"Lausitzer Neuesten Nachrichten", (1899) Nr.
25 Seite
[97], Nr. 26 Seite [102], Nr. 27 Seite [106 – 107]
Marcel Richter,
Februar 2000
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